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Mittwoch, 24 Juli 2024
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Berliner Gipfel zur Jugendgewalt sucht Auswege

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Von Anne-Béatrice Clasmann und Verena Schmitt-Roschmann, dpa

Berlin (dpa) – Die Berliner Polizeipräsidentin Barbara Slowik schlug schon im Dezember Alarm. Mehr als 500 Kinder und Jugendliche waren im Lauf des Jahres 2022 mit Gewalttaten aufgefallen – etwa 200 mehr als ein Jahr zuvor. Mit Sorge sehe die Polizei auch die Respektlosigkeit in bestimmten Stadtteilen, sagte Slowik damals. Das war alles vor der Berliner Silvesternacht und dem Aufschrei über Randale, Gewalt und Angriffe auf Polizei und Feuerwehr.

Ein Gipfel zur Jugendgewalt soll an diesem Mittwoch in Berlin Experten und Politik zusammenbringen und Auswege aufzeigen. Aber schnelle Antworten wird es wohl nicht geben. «Es ist klar, dass man mit einem Gipfel nicht alles löst, aber das war auch nie meine Absicht», sagte Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey vorab.

Gerade in der Hauptstadt gibt es immer wieder Gewaltausbrüche, und das seit Jahrzehnten. Als 1987 bei Krawallen zum 1. Mai in Kreuzberg ein Bolle-Supermarkt in Flammen aufging, sprachen Lokalpolitiker schon damals von einer «völlig neuen Qualität» und rechtsfreien Räumen. Die Gewalt zum 1. Mai wurde in den vergangenen Jahren eingehegt, doch wird nun bei anderer Gelegenheit randaliert.

Kravalle in verschiedenen Städten

Das passiert nicht nur in Berlin. Silvester-Krawalle gab es dieses Jahr auch in Städten wie Bochum oder Frankfurt an der Oder. Sogar im sächsischen Borna kam es laut Polizei aus einer Gruppe am Marktplatz heraus «zum Abfeuern von pyrotechnischen Erzeugnissen in Richtung der Beamten». 2021 wurden in Dresden 185 Polizisten verletzt, als Hooligans nach einem Fußballspiel mit Pyrotechnik auf sie feuerten.

Die Täter sind in der Regel jung, das Verhalten bisweilen erschreckend aggressiv. Aber ist da wirklich ein Trend? «Wenn wir die Entwicklung von Jugendgewalt in den letzten 20 Jahren anschauen, so sehen wir, dass schwere Straftaten insgesamt abnehmen», sagt der Soziologe Aladin El-Mafaalani vom Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Osnabrück.

Laut Polizeistatistik sank beispielsweise bei gefährlicher und schwerer Körperverletzung die Zahl der deutschen Tatverdächtigen pro 100.000 Einwohner der Altersgruppe zwischen 8 und 21 Jahren in den vergangenen Jahren deutlich. Lag diese Zahl im Jahr 2010 noch bei durchschnittlich 518, so wurden im Jahr 2020 in dieser Altersklasse noch rund 302 Tatverdächtige pro 100.000 Einwohner ermittelt. Diese Zahl bezieht sich allerdings nur auf die deutsche Wohnbevölkerung.

Analyse bestätigt Rückgang

Die jüngste Analyse des Deutschen Jugendinstituts in München zur Jugendgewalt vom August 2022 bestätigt die Tendenz: Die Zahl der polizeilich registrierten jungen Tatverdächtigen sei zuletzt zurückgegangen, sowohl bei einfacher Körperverletzung als auch bei schweren Gewaltdelikten, etwa gefährliche oder schwere Körperverletzung, Raub, Vergewaltigung und schwere sexuelle Übergriffe, Mord oder Totschlag.

Nun waren die vergangenen Jahre Corona-Jahre, was auch die Kriminalität beeinflusst hat. Trotzdem sagt Sabrina Hoops, wissenschaftliche Referentin beim Jugendinstitut: «Es entsteht schnell der Eindruck, dass junge Leute immer delinquenter werden. Ein sachlicher Blick auf Gewalt im Jugendalter zeigt aber eher das Gegenteil.»

Das bedeutet nicht, dass es nicht auch gegenläufige Trends und Spitzen gibt – das Bild ist verwirrend vielfältig. In Halle an der Saale etwa, einer Stadt mit 240.000 Einwohnern, sorgen seit einem Jahr sogenannte Jugendbanden für Aufsehen, wie Polizeisprecher Michael Ripke bestätigt.

Eine eigene Ermittlungsgruppe, die «EG Cornern», hatte die 2022 insgesamt 368 Verfahren auf dem Tisch, darunter Körperverletzung, Raub, Bedrohung, Diebstähle, Nötigung und Beleidigung. Beim Raub ging es um Bargeld, Smartphones, Kopfhörer, Jacken oder Schuhe teurer Marken. 139 Tatverdächtige wurden registriert, die meisten zwischen 14 und 18 Jahre, die meisten männlich, 90 von ihnen mit deutscher Staatsbürgerschaft, die übrigen mit unterschiedlichen Nationalitäten, wie Ripke mitteilt. Die Opfer der Straftaten sind demnach ebenfalls überwiegend zwischen 14 und 17 Jahren alt und männlich.

Respektlosigkeit nimmt zu

Es könne große Probleme mit wenigen jungen Intensivtätern geben, sagt Soziologe El-Mafaalani. Und: «Polizisten, Rettungskräfte, Feuerwehrleute und Mitarbeiter in den Jobcentern berichten von einer zunehmenden Respektlosigkeit.» Das gelte nicht nur für Jugendliche und auch nicht für nur Menschen mit Migrationshintergrund. Ursachen ließen sich nicht leicht benennen.

Womöglich drückt sich hier auch das aus, was Politologen und Soziologen als Spaltung oder als Fehlen einer gemeinsamen gesellschaftlichen Vision beschreiben. Fest stehe auf jeden Fall, dass verschiedene Gruppen ihre Respektlosigkeit in unterschiedlicher Art und Weise ausdrückten, sagt El-Mafaalani.

Die versuchte Stürmung des Reichstagsgebäudes durch Teilnehmer einer «Querdenker»-Demonstration im August 2020 sei ein Beispiel gewesen, die Gewalt gegen Einsatzkräfte in der zurückliegenden Silvesternacht ein anderes. «Hier waren junge Menschen am Werk, die nicht den Eindruck haben, dass sie von der staatlichen Ordnung profitieren.» Es sei eine starke Hemmungslosigkeit zu beobachten gewesen, «vielleicht auch das Gefühl, nichts mehr zu verlieren zu haben».

Berlin besonders schlecht aufgestellt?

Was also tun nach dem Schock der Silvester-Krawalle? «Was Berlin angeht, so habe ich den Eindruck, dass man dort im Hinblick auf eine präventive Infrastruktur etwa in Schulen und Sozialarbeit besonders schlecht aufgestellt ist», meint El-Mafaalani. «In vielen westdeutschen Großstädten ist der Anteil der Menschen mit Einwanderungsgeschichte höher, aber vieles läuft insgesamt besser.»

Die Regierende Bürgermeisterin Giffey wird es nicht gerne hören. Klar ist aber auch für sie, der Gipfel gegen Jugendgewalt sei «keine Eintagsfliege, sondern der Beginn eines Prozesses».

Der Vorstand des von Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen getragenen Rats für Migration äußert unterdessen Befremden darüber, dass aus dem Entsetzen über die Vorfälle in der Silvesternacht so schnell eine Integrationsdebatte wurde – wie er findet mit rassistischen Untertönen. Gleichzeitig kritisiert er: «Seit Jahren erleben wir eine Konfusion an integrationspolitischen Maßnahmen, die letztendlich von den Kommunen und vereinzelt auch von den Ländern konzipiert werden.» Auch auf Bundesebene gebe es ein Durcheinander zwischen Familienministerium und Innenministerium und anderen, die sich um die Einwanderung von Arbeitskräften kümmerten. Sein Fazit: «Der Bund wird hier seiner Rolle nicht gerecht, denn ein eindeutig zuständiges Bundesministerium lässt noch auf sich warten.»

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