Berlin (dpa) – Die Anordnung einer Teilmobilmachung in Russland mit der geplanten Einziehung von 300.000 Reservisten wird von Regierungs- und Außenpolitikern in Deutschland vorrangig als «Zeichen der Schwäche» gedeutet. Zugleich wurden Sorgen vor einer weitere Eskalation laut.
Bundeskanzler Olaf Scholz bezeichnete die jüngsten Entscheidungen von Präsident Wladimir Putin und seiner Regierung als «Akt der Verzweiflung». «Russland kann diesen verbrecherischen Krieg nicht gewinnen», sagte der SPD-Politiker in New York am Rande der UN-Generalversammlung. Putin habe die Situation von Anfang an «komplett unterschätzt». Das gelte sowohl für den Widerstandswillen der Ukrainer als auch für die Geschlossenheit der Freunde der Ukraine.
Später bekräftigte der Kanzler in den ARD-«Tagesthemen», dass er eine Eskalation zwischen Russland und der Nato unbedingt vermeiden wolle. Deutschland habe die Ukraine immer umfassend unterstützt, aber gleichzeitig sichergestellt, dass es zu einer solchen Eskalation nicht komme, so Scholz. «Genau diesen Weg werden wir auch weitergehen.» Die Reaktion Putins auf die militärischen Erfolge der ukrainischen Streitkräfte zeige, «dass Putin mit seinen Plänen nicht durchkommt».
Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) sprach von einem «Zeichen der militärischen und politischen Schwäche». Putin versuche nicht nur die Ukraine zu zerstören, sondern er ruiniere auch sein eigenes Land. «Skrupellos und brutal schickt er erneut Tausende junger Menschen in einen sinnlosen Tod in diesem brutalen und verbrecherischen Krieg», sagte die SPD-Politikerin. «Russland sollte sich jedoch nicht täuschen: Wir werden in unserer Unterstützung für den mutigen Abwehrkampf der Ukraine nicht nachlassen.»
FDP-Verteidigungspolitiker : Eskalation denkbar
Auch FDP-Chef und Bundesfinanzminister Christian Lindner sprach von einem «Zeichen der Schwäche». «Die Ukraine lässt sich davon nicht einschüchtern und wir sollten es auch nicht tun», sagte Lindner in Berlin. Die Teilmobilmachung zeige aber, dass man es mit einem noch lange dauernden Konflikt zu tun habe. Lindner sprach davon, die Ukraine dauerhaft zu unterstützen.
Koalitionspolitiker äußerten aber auch Sorgen. Die Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion, Katja Mast, sagte, «es ist auch eine neue Eskalation». Die Teilmobilmachung zeige, dass Putin gewillt sei, auch weitere Schritte zu gehen. Der FDP-Verteidigungspolitiker Ulrich Lechte sagte, die Anordnung mache deutlich, dass Russland bei seinem Angriffskrieg offenbar erhebliche militärische Verluste zu verzeichnen habe. «Eine weitere Eskalation ist unter diesen Umständen denkbar – ungeachtet dessen müssen und werden wir weiterhin fest an der Seite der Ukraine stehen.»
Sara Nanni, Obfrau der Grünen im Verteidigungsausschuss, sieht Russland «unter Druck». Die Teilmobilmachung zeige aber auch: «Präsident Putin wird nicht von seinem Plan absehen, sich die Ukraine einzuverleiben.» Die Unterstützung der Ukraine gegen die russische Aggression sei kein Staffellauf sondern ein Triathlon. «Auf die nächsten Tage blicke ich mit großer Sorge», sagte sie «t-online».
AfD-Co-Chef: «Der Dritte Weltkrieg droht»
Die Reaktionen aus der Opposition fielen unterschiedlich aus. Unionsfraktionsvize Johann Wadephul (CDU) sagte, dass Putin endgültig die Maske fallen lasse. «Die Ukraine hat die Möglichkeit, das eigene Land erfolgreich zu verteidigen und von Russland besetzte Gebiete zu befreien.» Doch dafür brauche es mehr als zuletzt substanzielle Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft in Form von schweren Waffen.
CDU-Chef Friedrich Merz glaubt, dass die Stimmung in Russland kippen könnte. Der Schritt sei eine Eskalation, auf die der Westen «mit Entschlossenheit und Klarheit» reagieren müsse, sagte Merz in der Sendung «RTL Direkt». «Ich glaube, dass es der Kipppunkt für Putin sein könnte, denn er wird die Zustimmung im Land vermutlich nicht halten können.»
AfD-Co-Chef Tino Chrupalla warnte: «Der Dritte Weltkrieg droht, und Deutschland wäre wegen der Eskalationsstrategie der Ampel direkte Kriegspartei.» Waffenlieferungen an die Ukraine führten zur Eskalation und zögen Deutschland in den Krieg hinein. Die Bundesregierung müsse sich für Friedensverhandlungen einsetzen «und eine atomare Konfrontation abwenden.» Deutschland habe im Ukraine-Krieg nichts zu gewinnen, «aber alles zu verlieren.»
Die Co-Parteichefin der Linken, Janine Wissler, forderte eine Aufnahme von Flüchtlingen aus Russland. «Menschen, die jetzt aus Russland fliehen, weil sie den Krieg ablehnen und nicht als Reservisten eingezogen werden wollen, brauchen Schutz und Asyl. Deutschland muss schnelle und unkomplizierte Aufnahmemöglichkeiten garantieren», sagte sie «t-online». Menschenleben würden immer mehr zum «Verschleißmaterial eines verbrecherischen Krieges Putins».
Heusgen: Putin verliert Rückhalt
Der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, wertet die Teilmobilmachung «Verzweiflungstat» und Indiz dafür, dass Russlands Präsident Wladimir Putin selbst bei seinen bisherigen Verbündeten den Rückhalt verliert. Beim jüngsten Gipfel des Shanghai Cooperation Council sei Putin «gedemütigt» worden, sagte Heusgen dem Fernsehsender WELT. Der chinesische Präsident Xi Jinping habe ihm klar zu verstehen gegeben, dass er große Bedenken habe. Auch sei er zum Teil von zentralasiatischen Präsidenten links liegengelassen worden. «Sein Ruf ist beschädigt und er muss jetzt irgendwie aus Verzweiflung versuchen, das Image seines Landes wieder aufzubessern.»
Heusgen sprach von einer Massenflucht von Wehrpflichtigen, die gerade vornehmlich über Istanbul aus Russland ausreisten. Das deute auf ein Scheitern des Mobilisierungsversuchs hin, kommentierte er. «Die Menschen wollen nicht an dieser Front dienen. Sie wissen, in welchem schlechten Zustand die Streitkräfte sind, wie schlecht die Motivationslage ist. Und das wird eine ganz schwierige Operation sein.» «Der Mann ist verzweifelt, er steht unter internationalem Druck, er muss liefern, weil auch zu Hause ihm langsam die Basis wegbröckelt», schätzte Heusgen weiter ein.