Von Christian Kunz, Robert Semmler und Andreas Schirmer, dpa
München (dpa) – Deutschlands Leichtathleten verzückten das Heim-Publikum ihres Sommermärchens nach reichlich Gänsehaut-Auftritten nochmal mit zweimal Gold beim grandiosen EM-Finale.
Die Frauen-Staffel um Golden Girl Gina Lückenkemper sorgte beim Showdown zum Abschluss der Europameisterschaften ebenso für den Titel wie Speerwerfer Julian Weber, der mit seiner Siegesweite von 87,66 das Olympiastadion rockte. «Das ist einfach unfassbar geil», rief Lückenkemper am Stadion-Mikrofon.
Weber zum Publikum: «Ihr seid der Hammer»
Für einen Aufschrei der Enttäuschung sorgte bei knisternder Stimmung die Staffel der Männer über 4 x 100 Meter, als der erste Wechsel völlig misslang und das Finale für das deutsche Quartett beendet war.
24 Stunden zuvor waren nach der mit Silber belohnten Hindernis-Show von Lea Meyer viele Tränen geflossen, Bo Kanda Lita Baehre stand als EM-Zweiter mit einer Kampfansage an Mr. Unschlagbar Armand Duplantis für ein neues Stück Siegermentalität. Mit 16 Medaillen betrieb die deutsche Mannschaft um die diesmal geschlagene Olympiasiegerin Malaika Mihambo kurz nach der großen WM-Tristesse und zwei Jahre vor Olympia gewaltige Imagepflege.
«Ihr seid der Hammer», rief der von Schmerzen an Schulter und Rücken geplagte Weber dem frenetischen Münchner Leichtathletik-Publikum zu. «Mir fällt ein Riesenstein vom Herzen.»
Nach nur einmal Gold und einmal Bronze bei den Welttitelkämpfen vor vier Wochen in den USA jubelten am Sonntag Weber und die Frauen-Staffel mit Alexandra Burghardt, Lisa Mayer, Lückenkemper und Rebekka Haase. Zuvor hatten schon Lückenkemper im Einzelrennen, Langstrecken-Ass Konstanze Klosterhalfen, Zehnkampf-König Niklas Kaul, Marathon-Mann Richard Ringer und das Marathon-Frauenteam rauschende Titel-Partys gefeiert.
Dramen, wie der Kreislaufkollaps von Mihambo nach Weitsprung-Silber und Corona-Kampf, die Nacht von Lückenkemper in der Notaufnahme oder auf Rang vier nur knapp verfehlte Medaillen von Teamkollegen sorgten ebenfalls für denkwürdige Momente.
Cheftrainerin Stein: «Es waren wundervolle Tage»
«Das war eine Sternstunde unserer Sportart», sagte Präsident Jürgen Kessing über das Doppelgold von Lückenkemper und Kaul an einem Abend. «Da kriege ich jetzt noch Gänsehaut.» Neben ihm sprach Annett Stein über ihre «schönste Meisterschaft» als Cheftrainerin. «Es waren wundervolle Tage», sagte sie. Man habe bei der WM nicht performt, «aber den Spagat mit EM und WM ganz gut geschafft».
Sie sprach während der EM-Tage von «geballten Emotionen» oder von «Geschichten und einer Stimmung, die unter die Haut gingen». Exemplarisch war da der atemberaubende Lauf von Meyer über 3000 Meter Hindernis vor einem schwarz-rot-goldenen Fahnenmeer. «Es war wunderschön», sagte die 24-Jährige und gedachte mit ergreifenden Worten ihrem in diesem Jahr nach Krankheit gestorbenen Trainer Henning von Papen (69). «Ich habe vor dem Rennen gedacht, Henning, das Rennen ist für dich», sagte die Läuferin vom ASV Köln.
Nach den 19 Medaillen während der Berliner EM 2018 sowie einer noch nachträglich zugesprochenen Medaille standen die ähnlich erfolgreichen Titelkämpfe in München als Hauptattraktion der European Championships noch etwas mehr im Fokus. Sie vergrößerten das Interesse an der olympischen Sportart im Schatten des Fußballs. «Ich glaube, dass wir magische Momente hatten», schwärmte Lita Baehre über die Begeisterung im altehrwürdigen Olympiastadion zum 50-jährigen Jubiläum der Sommerspiele von 1972. «Die Leute haben so Bock auf Leichtathletik.» Stunden zuvor hatten sogar im strömenden Regen viele Zuschauer bei Bronze für Geherin Saskia Feige mitgejubelt.
Nach der EM ist vor der WM und Olympia
Der Stimmungsaufheller mit Erfolgen gegen europäische Konkurrenz ohne russische und belarussische Athleten kann Schwung für den Weg zu den Weltmeisterschaften im kommenden Jahr in Budapest und den Olympischen Spielen 2024 in Paris geben. Doch das ernüchternde WM-Abschneiden muss weiter aufgearbeitet werden, um lang- oder vielleicht auch schon mittelfristig im Weltmaßstab wieder konkurrenzfähiger zu sein. Endlich glückte auch Speerwerfer Weber nach vierten Plätzen bei Olympia und WM die ersehnte erste Medaille.
«Ja, es ist keine Weltmeisterschaft, das kann man festhalten. Und ja, das Weltniveau ist auch teilweise noch höher», sagte Meyer nach ihrer um rund zehn Sekunden verbesserten persönlichen Bestzeit. Aber man «sollte jetzt einfach mal auch uns wirklich wertschätzen». Das galt besonders für Meyer, die nach ihrem besorgniserregenden Sturz in den WM-Wassergraben schon in Eugene viel Kampfgeist bewiesen hatte.
Die 24-Jährige und der 23-jährige Lita Baehre stehen für jüngere Athleten, die Hoffnung für die Zukunft wecken. Das gilt auch für die nach ihrem Goldsturz am Knie genähte Lückenkemper (25), Klosterhalfen (25) oder Kaul (24). Die diesmal entthronte Allesgewinnerin Mihambo (28), die nach Corona-Erkrankung «Silber gewonnen und nicht Gold verloren» hatte, bleibt sowieso ein Garant für Topleistungen. Weber (27) ist auch in einem guten Speerwerfer-Alter.