Köln (dpa) – Deutschland und der Eurovision Song Contest, das war in den vergangenen Jahren eine Geschichte voller Missverständnisse. Daher ist es vielleicht gar nicht verwunderlich, dass etwas, das aussieht wie ein großes Missverständnis, nun in Köln-Ossendorf auf der Bühne steht und genau das will: Für Deutschland zum ESC fahren.
Der Typ trägt eine Perücke – Modell Wischmob – und hat eine eher gemütliche Theken-Statur. Zwischen den stets gut frisierten Balladen-Königinnen und geschmeidigen Popsängern, die beim ESC einen Großteil des Starter-Felds ausmachen, würde er sicherlich auffallen. Er nennt sich Ikke Hüftgold und beteuert: «Das ist kein Gag.»
Deutschland kürt am Freitagabend (3. März, 22.20 Uhr, ARD) seinen Beitrag zum nächsten ESC im Mai. Seit Mittwoch kann man bereits den Proben für die Show beiwohnen, die Barbara Schöneberger (48) moderieren wird – und einen Eindruck davon bekommen, wer auf welche Weise die Mission antreten möchte, ein paar Punkte mehr zu holen als die gescheiterten deutschen Aspiranten der vergangenen Jahre. Seit 2015 hagelte es letzte oder vorletzte Plätze. Einzige Ausnahme war 2018 Michael Schulte mit Platz vier. Auch 2020 kam man ohne Schmach davon. Der Grund war aber, dass wegen Corona gar kein ESC stattfand.
Facettenreiche Location
Produziert wird der Vorentscheid in einem Studiokomplex, in dessen Nähe sich unterschiedliche Facetten des menschlichen Lebens abbilden – sowohl ein familienfreundlichen Möbelhaus als auch ein Gefängnis sind fußläufig erreichbar. Und ähnlich breitgefächert – zumindest musikalisch und optisch – erscheinen zunächst mal die Beiträge. Punk-Rock (Lonely Spring), Funk-Pop (TRONG), Balladen (René Miller, Anica Russo, Will Church) – alles dabei. Eine Bewerberin, Patty Gurdy, spielt auf eine Drehleier, einem Instrument, das man bisher allerhöchstens von Mittelalter-Märkten kannte. Die Band Lord of the Lost steckt in roten Leder-Outfits und singt eine lauten Dark-Rock.
«Kontrast macht eine gute Unterhaltungsshow aus – und das ist der ESC», sagt Alina Süggeler von der Band Frida Gold, die ebenfalls antritt – mit einem kunstvollen Deutschpop-Lied («Alle Frauen in mir sind müde»). Davon lebe auch der deutsche Vorentscheid. Sie nennt das, was gerade in Köln läuft, eine «Musikbegegnungsstätte.»
Wer in dieser Zusammenkunft noch ein bisschen mehr auffällt, ist gleichwohl Ikke Hüftgold. Auch er sagt, dass das musikalische Spektrum sehr breit sei. «Aber ich bin der Breiteste von allen.»
Lieder für den Ballermann
Der Musiker, der eigentlich Matthias Distel heißt, singt sogenannten Party-Schlager, also Lieder für den Ballermann, für die Kirmes, für Schützenfeste. Wenn man so will: eine sehr deutsche Musikrichtung. Mit Zeilen wie: «Ich überleg, mit dem Saufen aufzuhören – aber ich schwanke noch.» Dass er beim Vorentscheid mitmachen kann, hat er einer Abstimmung auf der Plattform Tiktok zu verdanken. Sein Beitrag heißt «Lied mit gutem Text» und spielt ironisch mit dem anti-intellektuellen Image seiner Party-Lieder. Ein Großteil des Textes besteht allerdings aus «La-La-La»-Wiederholungen.
Manch einer kann damit wenig anfangen. Guildo Horn, der 1998 für Deutschland beim ESC antrat, etwa sagt der Deutschen Presse-Agentur: «Ich glaube, privat ist Ikke Hüftgold ein ganz angenehmer Zeitgenosse, aber leider ist Partyprollsound so ziemlich genau das Gegenteil von dem, was mich persönlich unterhält.»
Hüftgold bringt das bislang nicht aus der Ruhe. Er bringe als Farben eben Party und Humor mit – allein deshalb habe das seine Berechtigung. Und die Zuschauer könnten ja immer noch entscheiden, ob dieser Humor «in die Hose gegangen» sei. «Oder ob dieses lustige Liedchen, was ja wirklich keinem wehtut, da draußen gut ankommt». Er werde jedenfalls um jeden Punkt kämpfen – auch international.
Zu den Gründen für die chronische deutsche ESC-Misere gibt es seit Jahren unterschiedliche Erklärmuster. Liegt es daran, dass die ganz Großen des deutschen Showgeschäfts – Kragenweite Grönemeyer – den ESC meiden? Daran, dass Stefan Raab nicht mehr mitmacht? An der bleiernen Ernsthaftigkeit, wie Deutsche so einen Wettbewerb versuchen durchzuplanen, wo doch Leichtigkeit gefragt wäre.
Auch 2023 wurden einige interessante Entscheidungen getroffen. Die ARD zeigt den Vorentscheid nun sehr spät am Abend, erst um 22.20 Uhr. Ein «programmplanerisches Experiment» nennt es der Sender selbst. Zum anderen ist der Auswahlmodus verschachtelter als eine Papst-Wahl. In ihn fließen ein Online-Abstimmung, SMS sowie Anrufe des Publikums ein – und das Votum von acht Jurys aus acht verschiedenen Ländern.
Wird das helfen? Hüftgold sagt, dass ein Schlüssel zum Erfolg sicherlich Kreativität und Qualität sein. «Jetzt habe ich beides nicht», sagt er und lacht. «Und vielleicht ist genau das das Rezept.»