Von Rachel Boßmeyer, dpa
Paris (dpa) – Es sollte ein Tag voller Freude sein – doch kurz nach dem Feuerwerk zum französischen Nationalfeiertag rast am 14. Juli 2016 in Nizza ein tonnenschwerer Lastwagen durch die rappelvolle Uferpromenade am Mittelmeer und bringt Tod, Angst und Leid. Auch zwei Schülerinnen und eine Lehrerin einer Berliner Schule reißt der Attentäter aus dem Leben. Insgesamt sterben bei dem islamistischen Terroranschlag 86 Menschen, Hunderte werden verletzt. Sechs Jahre danach beginnt am Montag in Paris die juristische Aufarbeitung.
Der Prozess vor einem Spezialgericht wird mit Spannung erwartet. Denn der Anschlag erschütterte ein Land, das zuvor schon durch die Terrorattacken auf die Satirezeitschrift «Charlie Hebdo» und einen jüdischen Supermarkt sowie auf Restaurants und den Konzertsaal «Bataclan» ins Mark getroffen worden war. Der Täter von Nizza, Mohamed Lahouaiej Bouhlel (31), wurde damals erschossen. Nun müssen sich sieben Männer und eine Frau verantworten, die ihn unterstützt haben sollen. Auf sie könnten Haftstrafen zwischen fünf Jahren und lebenslang zukommen.
Gab es genügend Sicherheitskräfte?
Doch das auf dreieinhalb Monate angesetzte Verfahren dürfte über die mutmaßlichen Unterstützer hinaus gehen. Das Gericht soll in Erfahrung bringen, in welchem Netzwerk der Attentäter gehandelt hat. Obwohl die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) die Tat für sich reklamierte und Hinweise auf eine islamistische Radikalisierung des Tunesiers gefunden wurden, sah es zunächst nicht nach einer Verbindung aus.
Auch die Sicherheitsmaßnahmen dürften im Prozess eine Rolle spielen, wenngleich die gesonderten Ermittlungen hierzu in Nizza noch laufen. Denn warum der Täter auf die Promenade des Anglais fahren konnte und ob es genügend Sicherheitskräfte vor Ort gab, treibt Betroffene noch immer um.
Insgesamt vier Prozesswochen sind den Aussagen von mehr als 850 Nebenklägerinnen und Nebenkläger eingeräumt. Betroffen sind auch etliche Kinder. Medienberichten zufolge können sie per Übertragung aus einem Saal in Nizza aussagen, damit sie den Weg nach Paris nicht auf sich nehmen müssen. Für einige dürfte das eine Erleichterung sein.
Opfer kämpfen mit posttraumatischer Belastung
Ein erheblicher Anteil der Kinder, die den Anschlag miterlebten, leidet unter posttraumatischer Belastung, wie die Kinderpsychologin Florence Askenazy dem Radiosender France Info sagt. Die 13-jährigen Zwillingsbrüder Mathias und Lazard zum Beispiel, die sich damals das Feuerwerk anschauten, haben bis heute Probleme, allein nach draußen zu gehen. «Wenn ich raus gehe, kriege ich Angstzustände», schildert Mathias dem Sender. «Ich kann nicht alleine raus», sagt auch Lazard.
Auch Marc Phalips Alltag bleibt von dem Anschlag geprägt. Der freiwillige Feuerwehrmann war zum Eisessen auf der Promenade, leistete dann Nothilfe, brachte Schwerverletzte ins Krankenhaus. «Ich sehe mich noch immer auf der Promenade fahren, um Menschen zu retten. Ich fuhr zwischen Leichen», sagt Phalip dem Sender France 3. Früher habe er dort immer flaniert. «Das war wunderschön. Und jetzt schaffe ich es nicht mehr, die Bilder meiner Kindheit zu sehen.» Die Bilder seien in seinem Kopf gebrannt. «Das ist wie eine Narbe. Wenn Sie sie haben, behalten Sie sie fürs Leben.»
Für Stéphane Erbs und seine Tochter Noémie birgt der Prozess Hoffnung und wieder aufklaffende Wunden. Frau und Mutter Rachel starb bei dem Anschlag. Das Verfahren sei ein Meilenstein, erzählt Stéphane der Zeitung «Nice Matin», doch der Sommer sei in diesem Jahr schwierig gewesen. «Wir wissen, dass diese Zeit uns nach unten ziehen wird. Wir bereiten uns darauf vor.» Der wichtige Teil seien die Aussagen, sagt Stéphane. «Das wird befreiend», schätzt er. «Es wird Wut geben, Hass, aber manche Opfer werden einen Teil ihrer Last ablegen. Ich hoffe, dass wir einen Teil unseres Schmerzes dort ablegen.»