Christian Hollmann, dpa
Seoul (dpa) – Im Russland-Dilemma des Weltsports droht der deutschen Athletengemeinde eine heikle Zwickmühle. Trotz der Gegenwehr des Deutschen Olympischen Sportbunds und anderer europäischer Dachverbände gewinnt die vom IOC angestoßene Debatte um eine Wiederzulassung russischer und belarussischer Sportler an Fahrt.
Sollten sich die Befürworter einer Aufweichung des Banns durchsetzen, geriete auch die Bundesregierung in Zugzwang. Derzeit werden deutschen Verbänden, die an Wettbewerben mit Russen und Belarussen teilnehmen, die Fördermittel für die Reisen dorthin gestrichen.
Auch die Beteiligung an Trainingslagern und Lehrgängen und anderen Sportveranstaltungen, bei denen Athletinnen und Athleten aus Russland und Belarus dabei sind, ist weiterhin «nicht zuwendungsfähig», wie das Bundesinnenministerium entschieden hat. Vor dem Hintergrund der Zuspitzung des Kriegs in der Ukraine «durch die Teilmobilmachung Russlands und die flächendeckenden Raketenangriffe Russlands insbesondere auch auf die Zivilbevölkerung» bekräftigte auch der DOSB seine Forderung nach einem weiteren Ausschluss von Russen und Belarussen aus dem internationalen Sport.
IOC steuert Kurswechsel an
Das Internationale Olympische Komitee steuert in dieser brisanten Frage jedoch auf einen Kurswechsel zu. Jüngst beschrieb IOC-Präsident Thomas Bach Überlegungen, russischen Sportlern, die sich vom Krieg distanzieren, den Weg zurück auf die Sportbühnen der Welt zu ermöglichen. «Athleten sollten nie das Opfer der Politik ihrer eigenen Regierung sein», erklärte Bach am Mittwoch beim Treffen der Nationalen Olympischen Komitees in Seoul.
Wie ein schwerer Schatten lag die kontroverse Frage über der ANOC-Konferenz in Südkorea in dieser Woche. Russlands NOK-Chef Stanislaw Posdnjakow kündigte für die Tage von Seoul Lobbyarbeit an und wollte auch bei Bach vorsprechen. Posdnjakow hatte nach der jüngsten Teilmobilmachung in Russland, bei der auch einige Spitzensportler einberufen wurden, den «Dienst für die Heimat» als ehrenvolle Pflicht der Bürger bezeichnet.
Dass russische Spitzenfunktionäre und das NOK des Landes weiter von Sanktionen des IOC ausgenommen sind, ärgert vor allem einige europäische Verbände wie den DOSB. Doch die harte Haltung gegenüber Russlands Athleten ist im Weltsport nach acht Monaten des Krieges nicht mehr unbedingt mehrheitsfähig.
Unermüdlicher Bach
Er habe zuletzt mit dutzenden Staatschefs über die Causa gesprochen, ließ Bach wissen. «Denjenigen, die auf Abstand zum Regime gehen, sollte es möglich sein, unter neutraler Flagge zu starten», sagte der IOC-Chef vor kurzem dem «Corriere della Sera». Weder die Athleten noch Russlands Sportspitzen hätten den Krieg gestartet, wiederholt Bach unermüdlich.
Auch der DOSB spürte auf internationalem Parkett zuletzt die verbreitete Bereitschaft zur Aufweichung der Sanktionen. Bach rief die Delegierten in Seoul auf, eine klare Mehrheit in dieser Frage zu respektieren, sagte aber auch, jetzt sei «nicht die Zeit» für ein Ende der IOC-Maßnahmen.
Der Ringe-Zirkel und die internationalen Dachverbände stehen auch mit Blick auf Olympia 2024 in Paris unter Druck. Nach und nach beginnen in den nächsten Monaten die Qualifikationswettbewerbe. Bleibt es bei der IOC-Empfehlung, Russen und Belarussen auszuschließen, käme dies einer Verbannung von den nächsten Sommerspielen gleich.
Athleten Deutschland kritisieren IOC
Der Verein Athleten Deutschland kritisierte indes die Linie des IOC. «So, wie das IOC in den letzten Jahren im Umgang mit Russland agiert hat, war das auch zu erwarten, macht es aber keinen Deut besser», sagte Maximilian Klein, Beauftragter für den Bereich internationale Sportpolitik, der «Süddeutschen Zeitung».
Wenn das IOC die Diskussion auf die individuelle Ebene der Athleten leitet, lenke es «von diesem gebotenen Sanktionspaket und seiner eigenen Verantwortung ab», sagte Klein. «Dadurch wird das strukturelle Systemversagen, das über Jahre geduldet und vielleicht sogar gefördert wurde, außer Acht gelassen.» Kremlchef Wladimir Putin habe «den Weltsport – und die Athleten – über Jahre unbehelligt für seine politischen Zwecke vereinnahmen» können.
Der vom Russen Umar Kremlew geführte und von Gazprom finanzierte Box-Weltverband IBA hat schon Fakten geschaffen. Die beim IOC in Ungnade gefallene Organisation lässt Sportler aus Russland und Belarus wieder zu seinen Wettkämpfen zu, sogar mit ihren Nationalflaggen und eigenen Hymnen.
Deutsche Boxerinnen und Boxer müssen solchen Wettbewerben damit vorerst fernbleiben, da sie dafür keine Fördergelder mehr bekommen würden. Der Verzicht auf eine Teilnahme sei auch eine Empfehlung des DOSB, «und zwar aus politisch-moralischen Gründen», wie Verbands-Sportdirektor Michael Müller der ARD-«Sportschau» sagte. «Da stehen wir voll hinter.»