Als untrügliches Bauchgefühl das Sekretariat regierte
Rechts war die Tür zur Jungentoilette, links die leicht vertrocknet wirkende Zimmerpalme und in der Mitte des grün getünchten Schulhauskorridors befand sich die Tür, hinter der Frau Wiesner arbeitete. Meine Klassenkameraden und ich hatten mit Frau Wiesner eigentlich nur in zwei Situa-tionen zu tun: Beim Abholen des Klassenbuches oder wenn man sich vom Unterricht befreien lassen wollte. Das Erstaunliche: Die Schulsekretärin, welche stets mit gehäkelten Oberteilen am Schreibtisch saß, hatte ein untrügliches Gefühl dafür, ob die jungen Menschen vor ihr wirklich krank waren oder nicht. Wenn die Schüler tatsächlich etwas ausbrüteten, schickte Frau Wiesner sie nach Verständigung der Eltern nach Hause. Wenn die Kinder nicht kränkelten, schickte sie sie ebenfalls heim – ihre Miene ließ jedoch keinen Zweifel daran, dass sie die Beschwerden für simuliert hielt.
Heute, gut 30 Jahre nach dem letzten Besuch in diesem Schulsekretariat, bin ich überzeugt, dass die Welt aktuell mehr Gesundheitsexperten wie Frau Wiesner bräuchte. Denn momentan zerfällt die Menschheit in drei Gruppen. Ich meine damit nicht „geimpft“, „genesen“ und „getestet“. Sondern „krank-und-ansteckend“, „nicht-krank-und-nicht-ansteckend“ und „gefühlt-gesund-aber-dennoch-ansteckend“. Dass vergangene Woche die Inzidenzzahl im Landkreis Neumarkt auf über 325 stieg, ist zumindest teilweise auch auf die letzte Gruppe zurückzuführen: Menschen, die ohne Symptome in die Welt hinaus gehen und dort unwissentlich das Covid-19-Virus verbreiten. Und das kann den Erfahrungen der vergangenen Wochen nach Ungeimpften ebenso passieren wie Geimpften – wenn sicher auch nicht im gleichen Verhältnis.
Man könnte an dieser Stelle nun wieder Diskussionen beginnen: Ob Impfungen wirklich für alle Altersgruppen Sinn machen… Ob Geimpfte durch ein vermeintliches Sicherheitsgefühl womöglich „gefährlicher“ sind… Ob Herdenimmunität überhaupt jemals erreichbar ist… Über all das könnte man trefflich debattieren und die meisten Thesen wohl auch mit irgendwelchen Statistiken untermauern. Das tun wir an dieser Stelle aber nicht! Bei Frau Wiesner gab es schließlich auch keine Diskussionen – sie hatte einfach immer Recht. Auch als sie mich eines Tages auf dem Pausenhof sah und mit den Worten „Du schausd´ heit´ net so gsund´ aus“ vorsorglich nach Hause schickte. Die ersten Symptome einer knackigen Erkältung spürte ich selbst tatsächlich erst am nächsten Tag.
Wie gesagt: Die Welt bräuchte Frau Wiesner heute an allen Ecken und Enden. Mit einer Zuverlässigkeitsquote, die jedes Corona-Testzentrum vor Neid erblassen ließe, müsste sie einfach nur alle Erdbewohner, die sich in die Nähe anderer Menschen begeben möchten, eine halbe Sekunde lang in Augenschein nehmen. Ob diese dann ihres Weges ziehen dürften oder sich lieber in einen persönlichen „Lockdown“ begeben sollten, müsste sie nicht mal laut sagen. Ihre Miene würde es verraten.